© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript
Solo-Sonate 25 in F-Dur
(Smith-Crawford 31)
Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'
Diese Suite existiert in keinem anderen Manuskript.
Variationen der Allemande und Gigue finden sich aber in den beiden ersten Sonaten des Dresdener Manuskripts.
Die Gigue des Dresden Ms überrascht im ersten Teil durch eine Mischung aus identischen Takten und
Takten, die sich unterscheiden; der zweite Teil ist nach acht Takten völlig verschieden.
Im Gegensatz zu D.A.Smith finde ich, dass diese Suite zusammenhängend ist und die Bourrée nach der
Gigue (sie ist hier nicht mit aufgenommen) keine Bourrée II sondern vielmehr ein Einzelstück ist.
Ein Hauptgrund für diese Annahme ist, dass sie nicht direkt hinter der vorhergehenden Bourrée steht.
Die Nichtzugehörigkeit erweist sich auch daran, dass sie ein ganz anderes Tempo hat und sich die beiden
Bourres nicht schlüssig zu einer I-II-I Da-Capo-Struktur verbinden lassen.
Dies ist möglicherweise eines der Stücke von zweifelhafter Herkunft, die im Manuskript enthalten sind, da es
irgendwie im Gegensatz zu dem übrigen bekannten Werk von Weiss steht, zumindestens was den Grad des Fingersatzes,
der Kompositionstechnik und der Modulationen angeht.
Dieses Werk entspricht wieder ganz dem Geist von F-Dur.
Wie ich schon weiter oben bemerkt habe, ließe sich ganz natürlich aus den Themen der anderen Sätze ein Prelude zusammenbauen.
Diese Vorgehensweise wird unter den heutigen Lautenisten immer beliebter und wird sicherlich für die zukünftige Lautenistengeneration
zur allgemein geübten Praxis werden.
Ich möchte diese Reihe so aufhören, wie ich sie begonnen habe - und die Werke dieser großartigen Manuskript-Sammlung
darin getreu abbilden.
Das bedeutet jedoch nicht, die Möglichkeit auszuschließen, eines Tages improvisierte Preludien zu den Suiten hinzuzufügen,
bei denen das nötig ist, oder manche Preludien bei Konzerten so zu verlängern, wie ich das angedeutet habe.
Die Allemande erinnert stark an die anderen Allemanden in F-Dur in diesem Band, wenn man von einer einzigen Ausnahme absieht,
der Allemande von
Le Fameux Corsaire (S-C 22)
.
Das lässt uns mutmaßen, dass Weiss einfach sehr viel in dieser idiomatischen Tonart F-Dur geschrieben hat,
bevor er die Werke auf die Suiten im Londoner Manuskript verteilt hat.
Diese Tonalität findet sich am Beginn, in der Mitte und am Ende dieser Sammlung in Werken, die sich sehr ähneln,
was eine große Nähe in ihrer Entstehungszeit vermuten lässt.
Das Allegro, das an Stelle einer Courante steht, könnte allem
Anschein nach auch ein Duo sein, aber es ist ein vollwertiges Solostück. In dieser Hinsicht ähnelt es der
Courante von
Solo Suite Nr. 4 (S-C 5) in G-Dur.
Der vorliegende Satz erscheint meiner Ansicht nach nicht unüberlegt als zweiter Satz nach der Allemande, denn seine Länge scheint nicht
auf einen Schlusssatz hinzudeuten.
Er scheint ganz gewollt als Werk in der Art eines Satzes für Laute und Flöte entworfen worden zu sein.
Dieses Allegro
ist gekennzeichnet durch einen lebhaften Wechsel zwischen Dur- und Moll-Tonarten, was später sehr typisch sein wird bei Mozart.
Man findet hier auch zwei Takte, die identisch sind mit dem mittleren Thema der
Allemande der dritten Cello Suite von J. S. Bach.
Bei den Bindebögen gibt es häufig das Problem, dass sie ziemlich weit von den Noten entfernt sind, so dass es
schwierig ist zu entscheiden, welche Noten gebunden werden sollen.
Anscheinend hatte der Kopist nicht die Absicht, etwas anderes anzuzeigen als die generelle "Idee" von
Bindebögen. Wenn man diese Musik aber in moderner Notation
publizieren will, muss man natürlich gewisse Entscheidungen treffen.
Die Tabulatur des Allegro stellt ein gutes Beispiel für diese "gewollte Ungenauigkeit" dar.
Eine der Passagen taucht im zweiten Teil nochmals auf, diesmal
ohne Bindebogen, obwohl er implizit klar vorausgesetzt wird.
An einer anderen Stelle werden hier drei von vier Achteln gebunden, obwohl
sich beim Spielen spontan und logisch die Zusammenbindung aller vier nahelegt.
Nach der damaligen Vorgehensweise scheint diese Art der Präzision nicht so wichtig gewesen zu sein wie ein schönes
graphisches Erscheinungsbild. Die
Präzision, die der heutigen Editionspraxis inne liegt, führt deshalb fast zwangsläufig zu einer
falschen Präsentation der Musik, weil die Bindebögen nicht der praktischen Kontrolle einer häufigeren Aufführung
unterzogen werden. Diese Fehldeutungen werden ohne Zweifel dann bereinigt werden, weil sich immer mehr Lautenisten mit
den Problemen der damaligen Notation befassen.
Als weiteres Beispiel für den wenig konsequenten Gebrauch von Bindebögen findet sich im Allegro an einer Stelle ein Bogen
mit drei Noten, der später wieder auftaucht und nur unter einer Gruppe von zwei Noten steht.
Genauso wichtig ist es aber, der Versuchung zu widerstehen, Bindebögen dort einzufügen, wo sie musikalisch
keinen Sinn machen.
Eine Passage der Bourrée muss scheinbar eher non-legato,
etwas schwerer gespielt werden. Dieser Effekt würde sich ins Gegenteil verkehren, wenn sie durch den Gebrauch von Bindungen
leicht und flüssig vorgetragen würde.
Diese Bourrée ist genauso verspielt wie viele andere vor ihr. Sie folgt sehr logisch dem Allegro durch den Gebrauch
ähnlicher thematischer Strukturen.
Die Einheit dieser Suite zieht sich durch bis hin zur Gigue.
Wie sonst öfters bei Weiss (schauen sie zum Beispiel die Bourrée der
Solo-Suite Nr. 6 (S-C 10)
an), scheint auch
hier die Bourrée auf den ersten Blick etwas mittelmäßig zu sein und der rechten Vorstellungskraft zu entbehren.
Manche vertreten sogar die Meinung, dieses Stück sei das Werk eines anderen Komponisten.
Üblicherweise wird diese Meinung etwas vorschnell nach einem ersten Vom-Blatt-Spielen gefällt.
Wenn man die Bourrée hingegen in angemessenem Tempo immer wieder spielt, erwacht sie zum Leben mit einer einfachen, aber
dennoch reichen und ausgewogenen Mischung.
Hier muss gesagt sein, dass der Drive der Weiss'schen Phrasen, ganz abgesehen von der Akzent-Verteilung
und den Stimmungs-Feinheiten, denen verborgen bleiben wird, die sich nicht eine gewisse technische Fertigkeit erworben haben.
Irgendwann wird man sich einer grundlegend unterschiedlichen Charakteristik der Musik von J.S.Bach (der
auf jeden Fall für die gesamte westliche Musik ein Referenzpunkt ist) und der von Weiss bewusst.
Während die Musik von Bach in sich logisch geschlossen bleibt ganz unabhängig vom Tempo, muss man bei Weiss intuitiv den richtigen musikalischen
Puls erfassen. Dies gilt in gleicher Weise auch für Vivaldi, obwohl das in seinem Fall etwas leichter zu entscheiden war vor
ungefähr 50 Jahren. Dieser leichtere Verständniszugang könnte zumindest teilweise die allgemeine Bevorzugung der Musik von
Bach erklären.
In einem weiteren Artikel werden wir auf diese vergleichende Studie zurückkommen,
da Weiss nicht nur aus der Perspektive seines instrumentalen Komponierens, sondern auch von seiner
Kompositionstechnik her verstanden werden muss.
Um zu der fraglichen Bourrée zurückzukehren: Missinterpretationen können auch dort auftreten, wo man
Schreibfehler zu erkennen glaubt
(Das ist zum Beispiel typisch für manche zeitgenössischen Herausgeber von Gitarrenmusik).
Noch einmal, bei einem sauberen Spiel im richtigen Tempo mit angemessener Akzentuierung und Intonation erweist sich die
Bourrée als perfekt ausgewogen und fehlerfrei. Glanzvoll durch wunderschöne
aufsteigende Arabesken, ist die Bourrée auch gekennzeichnet durch das Zusammenspiel akzentuierter Töne, die in drei aufeinander
folgenden Stimmen hervorbrechen, auf jeden Fall eine Weiss'sche Delikatesse höchsten Grades:
Eine gute Stakkato-Technik ist hier noch wichtiger als beim Allegro, weil manche Noten extrem kurz genommen werden müssen.
Dieses Stück legt auch die Möglichkeit nahe, die Wiederholungen komplett im Stil einer Double zu gestalten.
Die beiden Menuette sind interessanter als sie beim ersten Eindruck scheinen.
Die Beobachtung der thematischen Einheit der Suite wird bekräftigt durch die Verwendung von Motiven, die sich in der
Bourrée finden; aber verdächtig ist, dass eine Sarabande fehlt.
Das Menuett 2do (secundo), das in der parallelen Molltonart steht, scheint eine Art Ersatz für die Sarabande
zu sein, hat sie doch beinahe doppelt so viele Takte wie das erste Menuett.
Das weist auf eine weitere Differenz zwischen der Musik von Bach und Weiss hin.
In der Entwicklung des zweiten Teiles erreicht Weiss diesselbe Tiefe
der Melancholie wie Bach allerdings ohne die Bach eigene lutherische Strenge.
Überraschende Modulationen folgen aufeinander in Phrasen, die geheimnisvoll mäandern und
auf dem Höhepunkt der Entwicklung aufbrechen.
Dennoch ist der musikalische Gestus zusammenhängend, kräftig sowohl im poetischen als auch im strukturellen Sinn des Wortes.
Die
Gigue steht im Dreiermetrum, was zu einem fröhlich bewegten Rhythmus mit wunderschön singenden
Basslinien führt, die sich aus dem tänzerischen Rhythmus ergeben. Um nochmals zu dem Problem der Bindungen zurückzukehren, -
es stellt sich als notwendig heraus, mehr Bindungen zu verwenden als in einem Stück dieser Art geschrieben sind. Das legt
die Vermutung nahe, dass in dieser Musikperiode Bindungen ähnlich gehandhabt wurden wie die Generalbass-Bezeichnungen: Mit
großer Genauigkeit in Passagen, in denen es auf einen bestimmen musikalischen Ausdruck ankommt, aber im allgemeinen eher
ungenau und unvollständig, was viele Entscheidungen dem Geschmack des Musikers überlässt.
Copyright © 1998-2006 Laurent
Duroselle, Markus Lutz
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