© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 1 in F-Dur
(Smith-Crawford 1)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Diese Suite findet sich auch im Manuskript von Dresden, außerdem teilweise auch in Wien und Warschau. In Warschau finden wir sogar ziemlich überraschend bis zu drei Versionen für jedes Stück, die bis auf unterschiedliche Bindungen der linken Hand fast identisch sind. Weil in jedem der Stücke eine Vielzahl von Bindungen möglich ist, folgen daraus fast zwangsläufig Variationen von einer Version zur anderen. Darüber hinaus können nur wenige Interpreten dem Drang widerstehen, die Bindungen an ihren persönlichen Geschmack anzupassen.
Auch wenn die Wahl der Artikulation der linken Hand einen direkten Einfluss auf das musikalische Ergebnis hat, ist es klar, dass die Wahl des Fingersatzes eine Frage der persönlichen Interpretation ist. Trotzdem wollen wir versuchen, so treu wie möglich bei der Londoner Version zu bleiben, auch in Bezug auf die harmonische Integrität und die Genauigkeit der Bindungen. Eine originalere Quelle als die erste Suite wird man schwerlich finden können: Vier der sieben Sätze sind vom Komponisten unterschrieben und datiert. Die Allemande trägt die französische Notiz: "Weiss, original fait á Prague 1717".

Darüberhinaus sind sowohl die Londoner als auch die Wiener Version vollständige Autographe.
Am Beginn des Praelude, mit dem auch das ganze Manuskripts anfängt, sind nicht weniger als 27 Akkorde als Halbe notiert. Diese Notation ermöglicht, ja erfordert geradezu eine freie Ausgestaltung, da normalerweise zur damaligen Zeit Akkorde ohne Zeitmaß improvisiert wurden. Deshalb erlaube ich mir hier, ruhig und zurückhaltend zu beginnen ganz im Sinn der "Tonarten-Charakteristik" der damaligen Zeit, die von einem Musikgelehrten wie Mattheson zusammenstellt wurde (Er war derjenige, der sowohl die Laute diffamierte als auch Weiss öffentlich pries). F-Dur wird von ihm als Tonart von großer Anmut (bonne grace) beschrieben: "Dieser Ton ist capable die schönsten Sentiments von der Welt zu exprimieren, es sey nun Großmuth, Standhafftigkeit, Liebe oder was sonst in dem Tugend-Register oben an stehet, und solches alles mit einer dermassen natürlichen Art und unvergleichlichen Facilité, daß gar kein Zwang dabey von nöthen ist." Auf die sieben ruhigen, meditativen Eingangsakkorde lasse ich eine Reihe von arpeggiierten und ineinanderklingenden Tönen folgen, die zu einer Kadenz führen, die auf eigenwillige Weise die letzten der 27 Akkorde auflöst und ruhig in den Rest des Prelude fließt. Dabei hält sich die spontane Atmosphäre bis zur letzten Note. Die Allemande in ihrer zurückhaltend sprechenden Art repräsentiert die Tonart F-Dur ausgezeichnet. Die Courante mit ihrem sehr gesanglichen Thema scheint fernab vom Instrument geschrieben worden zu sein, was die Ausführung nicht gerade erleichtert. Das zeigt sich an dem großen Bogen, der kaum eine reelle Pause erlaubt. Die geistreiche Bourree kann ihren Humor kaum verbergen. Auf sie folgt eine düstere Sarabande in der parallelen Molltonart mit verhaltenen Phrasen. Diese aufeinander folgenden Phrasen beruhen auf dem rhythmischen Impuls   und folgen einer auf-und-absteigenden melodischen Linie, die in ihrem Verlauf ganz der Eröffnungsmelodie der anderen sieben Sätze entspricht. Das ist ein Hinweis darauf, dass Weiss die Fähigkeit zu wahrer Synthese und strenger logischer Konstruktion besitzt. Um das zu deutlich zu machen, brauchen wir nur die grundsätzliche Struktur der Satzanfänge zu vergleichen:

Das Menuet von ziemlich offenem Charakter trägt in den Takten 6 und 9 die dynamischen Zeichen p und  f, die zu dieser Zeit selten gesetzt wurden. Man hat zwar unterschiedliche Nuancen beim Spielen verwendet, aber man hielt die genaue Festlegung der Intention des Komponisten durch viele Zeichen für eine überflüssige Mühe und ganz einfach für nicht nötig, außer in ganz seltenen Fällen wie z.B. hier. Anders als im 19.Jahrhundert legte ein Komponist damals die Interpretation nicht fest. Er überließ vielmehr dem Interpreten seiner Werke (auch sich selber) die Freiheit, die Nuancen auf unterschiedliche und veränderbare Weise zu gestalten. Die Gigue am Ende der Suite hat einen solch ausgelassenen Schwung, der fast unwiderstehlich zum Tanzen einlädt. Man beachte die Sprünge der Bassstimme im zweiten Teil, die den Tanzcharakter unterstreichen. Wenn man sieht, wie homogen diese Suite im Manuskript von London als der ersten Referenz aussieht, wird man folgern müssen, dass diese Gigue die Suite Nr. 1 abschließt (7 Sätze). Aber dennoch ist wichtig zu wissen, dass D.A.Smith nach seiner thematischen Analyse ihr weitere 5 Sätze zuordnet (man könnte sogar von 6 sprechen, wenn man das Prelude dazunimmt, das entweder vergessen oder ausgeschlossen wurde).
Es handelt sich dabei um: Die 2 Menuette und die Gavotte von London, die auf die Gigue folgen, ein Prelude vom Wiener Manuskript, das dort am Anfang steht, und eine Chaconne sowie möglicherweise um ein weiteres Prelude, das am Ende der Suite in einer der drei Warschauer Versionen steht. Ein Interpret könnte selbstverständlich diese große Version mit insgesamt 13 Sätzen spielen, aber das hätte eine außergewöhnliche Länge dieses Werks zur Folge: Über 40 Minuten. Außerdem würde es 3 Menuette und 3 Preludes enthalten. Daran wird deutlich, dass es sich nicht um zusätzliche Suitensätze, sondern eher um Sätze zum Austauschen handelt. Der Grund dafür könnte in der Fantasie des Komponisten oder in seinem Bestreben, das selbe Werk in einer neuen Zusammenstellung nochmals aufzuführen. Aus diesem Grund kann meiner Meinung nach jeder Interpret die Suite nach seinem Geschmack zusammenstellen unter Beachtung der üblichen Reihenfolge und ohne Wiederholung des selben Satztyps. Auf jeden Fall werde ich die beiden Menuette und die Gavotte in dem nächsten Teil "Einzelstücke des Londoner Manuskripts" behandeln.

< Einleitung      Sonate Nr.2 >


 


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