© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 20 in D-Dur
(Smith-Crawford 26)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Die sieben ersten Sätze dieser Suite sind Unikate und stehen nur im Londoner Manuskript. Der achte Satz ist auch in den Warschauer Manuskripten (zweimal) und in dem Manuskript von Buenos Aires zu finden, unter den Titeln Bourée und boure, darüber hinaus auch in der Handschrift von Haslemere, wo er mit Capricio Pichler überschrieben ist. Ist dieser letzte Satz vielleicht eine Komposition von Pichler, dessen Name immer wieder in anderen Lauten-Manuskripten auftaucht, oder war dieses Werk ihm gewidmet? Von Geist und Kompositionsstil her gesehen, könnte es eine Komposition von Weiss sein. "Scharf und eigensinnig" doch dabei auch geeignet, "gar artige und fremde Anleitung zu delicaten Sachen" zu geben, so hat Mattheson D-Dur beschrieben. Im Falle dieser Suite passen diese Attribute besonders gut. Sie lässt ihrer ungezügelten Freude freien Lauf und enthält dennoch einen starken thematischen Zusammenhang.

Nur das Prelude (ohne Titel) wurde von der Hand des Komponisten geschrieben. Es scheint das Resultat eines spontanten Ausbruchs der Phantasie zu sein, offensichtlich improvisiert. Die Handschrift von Weiss ist, nebenbei gesagt, sehr eloquent, voller langer sanfter Linien; kurz gesagt, eine Handschrift, die ausgeprägt und leidenschaftlich lebendig ist. Sie steht in deutlichem Kontrast zu der gemäßigten, zweckmäßigen Kalligraphie seines Kopisten, der die folgenden Sätze geschrieben hat. Um dem improvisatorischen Stil gerecht zu werden, wird man bei der Aufführung Rhythmus und Akzente weich fließen lassen. Anders zu verfahren würde den Intentionen des Komponisten zuwider laufen, der bei einem großen Teil des Notentextes auf rhythmische Zeichen verzichtet hat, ein Notentext, der sich darüberhinaus durch überaschende Akkordverbindungen auszeichnet.

Man hört im Marche den besonderen Klang von tiefen Glocken, die in beiden Teilen auftauchen. Man kann den Klang von drei Glocken hören, die unterschiedlich lange klingen wie im folgenden Beispiel:

Die Triller sind sehr genau notiert und ich habe mich dafür entschieden, sie genauso zu spielen. Wenn man diese Musik hört, kann man sich gut vorstellen, wie ein Zug mit August dem Starken an der Spitze in die fürstlichen Gärten an den Uferbänken der Elbe in Dresden zieht, von Zeit zu Zeit begleitet von dem Geläut der Glocken der benachbarten Kathedrale.

Die Gavotte, was ein Tanz mit 'kleinen Hopsern' bedeutet, springt in der Tat sehr lebhaft zur Begleitung der synkopisierten Bässe und ergibt so einen Gegenrhythmus, der sozusagen voneinander abprallt. Dieser tänzerisch hüpfende Effekt ist besonders stark hervorgehoben am Ende des Werks, wenn die Bässe an einer Rhythmusverschiebung beteiligt sind, die sich durch die Verzierungen in der Wiederholung ergibt. Interessanterweise wird im Anfangsteil des Stückes die Grundstellung des Tonika-Akkords vermieden. Den vollstimmigen Klang dieses Stückes, - es ist durchgehend dreistimmig komponiert - , durchzuhalten, stellt für den Interpreten eine große technische Herausforderung dar. Die Gavotte ist kein schnelles Stück und manche Bindungen scheinen in der Tat zu beweisen, dass ihr Tempo in der Praxis ziemlich gemäßigt genommen wurde. Die nachfolgende wunderschöne Aria, überschrieben mit adagio, enthält die großartigen Momente, nach denen man sich oft sehnt: einen Zustand vollkommener Anmut. Die dabei verwendete harmonische Fortschreitung, die in beiden Teilen erscheint, wobei die oberen beiden Stimmen schrittweise sanft vorwärtsgleiten und dabei eine musikalische Verzückung hervorrufen, die durch das Hinzufügen von Trillern in den Wiederholungen noch gesteigert wird. Man findet hier musikalische Phrasen von wahrhaft orchestraler Weite, man könnte sie sogar als symphonisch bezeichnen. Die Harmonien der drei letzten Takte der Aria waren bereits im Prelude zu hören. Daran l„sst sich der thematische Zusammenhang der Suite verdeutlichen, da auch in den anderen Sätzen Kadenzen manchmal in der gleichen Weise verlängert werden: V-VI, V-VI, V-I. Diese Abschnitte sollten von der Dynamik her ähnlich ausgestaltet werden, wie ich das bereits bei Suite Nr. 18 angesprochen habe.

Das Menuett verwendet eine ähnliche Akzentuierung wie die Gavotte. Die Musik entwickelt sich in Einheiten von je zwei Takten, von denen das erste jeden Paares betont, das andere unbetont ist. Das musikalische Ergebnis wirkt sehr elegant, die Leichtigkeit der Atmosphäre gibt keinen Hinweis auf die dramatische Sequenz, die sich im zweiten Teil entwickeln wird. Es scheint unzweifelhaft, dass die Wiederholung des ersten Teils ausgeschrieben ist, was sich durch eine Wiederholung der letzten beiden Takte erklären lässt, die wie eine vorweg genommenepetite reprise scheinen. Dennoch sind am Doppeltaktstrich Wiederholungszeichen markiert, die meiner Ansicht aber völlig überflüssig sind, da in diesem Fall das Thema viermal erscheinen würde. Die Musette mit ihrem durchgehenden Pedalton klingt wie eine Mischung aus Dudelsack und Orchester. Der erste Auftakt ist ein kennzeichnendes Motiv, das sich im ganzen Stück wiederholt. Er enthält gleichzeitig 5 D's (auf drei Chöre) verteilt, die wie Hörner zu klingen scheinen. Ohne diese Oktaven und Unisono-Verdoppelungen wäre das Stück um vieles ärmer. Beim Enstehen der Aufnahme habe ich versucht, die Anklänge an Dudelsackmusik durch die Verwendung von doppelten Mordenten und dem barocken Chute-Effect zu verstärken. Der Komponist hat zwar den Gebrauch von f und p nicht vorgeschrieben, aber er erlaubt es, das Stück dynamisch ausdrucksvoll zu gestalten.

Außergewöhnlich im Aufbau folgt das Rondeau en Echo dem Schema A-B-A-C-A mit den Tempobezeichnungen Adagio und Allegro für Teil B, bzw. C, woraus wir schließen können, dass A ebenfalls eher schnell gespielt werden sollte. Das Echo wird durch die Bezeichnungen f und p markiert. Die Melodie ist leicht und wird von einem zweiten, überraschenden Teil verschleiert. Das ist ein weiteres Beispiel für einen wohl überlegten Kontrast. Der achte Satz in dieser umfangreichen Suite trägt den Titel Comment Sçavez Vous? und ist ein vorzügliches Finale mit einem besonders fröhlichen Ritornell. Dieses Stück hat die Agogik einer Angloise (die Angloise in D aus Suite Nr. 13 ist ihm ziemlich ähnlich), auch wenn es in zwei anderen Manuskripten als Bourree bezeichnet wird, wie bereits erwähnt. Während die Warschauer Version fast gleich ist wie die des Londoner Manuskripts, ist die Variante von Haslamere zwar etwas anders, aber nicht weniger attraktiv. Die Version von Buenos Aires hingegen scheint schnell und vielleicht sogar ohne die nötige Sorgfalt transkribiert, oder ebenso plausibel aus dem Gedächtnis (Zum Beispiel fehlen dort manche Bässe). Mit seiner reizvollen und eingängigen Melodie ist dieser abschließende Satz ein entzückendes Juwel, nicht unähnlich Couperin's Les baricades mystérieuses, die ebenfalls nach dem Prinzip von Vorder- und Nachsatz konzipiert wurden. Einem kleinen Geheimnis kommt man nur beim Spielen auf die Spur. Während ich mir die offenkundige Absurdität des Titels zu erklären versuchte, wurde mir bewusst, dass die Basslinie ein verborgenes Thema enthielt - nämlich die Melodie von Frere Jacques! Als zusätzlicher Bonus, erinnert die obere Stimme an die Morgenglocken. Das ist der Grund dafür, dass ich dieses weltberühmte Morgenlied als Überleitung vor der Wiederholung verwende, die Logik meiner Überlegungen erweist sich an der Ähnlichkeit der Melodien. Ich komme ins Schmunzeln, wenn ich mir überlege, dass Weiss geahnt hat, dass seine zukünftigen Zuhörer dies entdecken und ihn fragen würden: "Diese Melodie erinnert mich an irgendetwas, könnte es "Frere Jacques" sein?" Gut vorstellbar, dass er darauf antworten würde: "Comment savez-vous?" (Woher wissen Sie das?)


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