© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript
Solo-Sonate 16 in G-Dur
(Smith-Crawford 22)
Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'
Diese Grand Suite in G-Dur unterscheidet sich von den vorigen fünfzehn durch ihren ungewöhnlichen Anfang mit einem Prelude, Toccata und Fuge. Mit Ausnahme der beiden Anfangstakte der Toccata, die im Breitkopf-Katalog zu finden sind, und dem Allegro, das auch im Moskauer Manuskript auftaucht, existiert diese Suite nur im Londoner Manuskript. Insgesamt scheint sie aus acht Sätzen zu bestehen, aber da die ersten drei Sätze eigentlich Teile eines größern Ouvertüren-Satzes sind, ist sie in der Tat ein ausgewogenes Werk mit nur sechs Sätzen. Die fünf letzten Sätze tragen dieselbe Unterschrift: S. L. Weis 1719. Außerdem lässt sich feststellen, dass nur einer der vier Kopisten, die an dem Londoner Manuskript mitgeschrieben haben, bei der Notierung der Suiten 16 und 17 beteiligt war.
Mattheson sagt über den Ton von G-Dur: Er "hat viel insinuantes und redendes in sich, er brilliret dabey auch nicht wenig, und ist sowohl zu serieusen, als munteren Dingen, gar geschickt." Man wird kaum eine bessere Beschreibung für die sechzehnte Suite finden: Ihre beredte Größe und ihre muntere Fröhlichkeit sind Kennzeichen, die in diesem Werk mehr vorherrschen als in der anderen G-Dur Suite Nr. 4 (S-C 5) der Londoner Handschrift.
Das Preludie beginnt mit neun Akkorden ohne Bezeichnung des Notenwerts, was eine große Freiheit bei der Interpretation zulässt. Eine Fülle von Arpeggien führt zu einem brillianten Anfang und kündet den großen Gestus der sich anschließenden Fuge und die Themen der weiteren Sätze an. Diese schnellen Arpeggios sollten sich rhythmisch nicht zu sehr von dem gewählten Tempo entfernen. Auf jeden Fall ähneln die Akkordfolgen denen der Preludes von Suite Nr. 1 (S-C 1) und Nr. 8 (S-C 12), die in Halben und Vierteln notiert sind. Die kurze darauf folgende Entwicklung ähnelt vielen anderen Abschnitten in Preludes von Weiss. Er hat hier offensichtlich nichts anderes beabsichtigt als ein kurzes einführendes Stück, um die Stimmung des Instruments zu testen, was der Praxis der Lautenisten des 17.Jahrhundert entsprach. Die Resonanz und der Reichtum der zugrunde liegenden harmonischen Struktur wird deutlicher, wenn man diese einfachen Salven von Sechzehnteln nicht zu schnell spielt.
Wo wir Brillianz in Form von Virtuosität erwarten würden, gibt uns die Toccata stattdessen einen Eindruck von feierlicher Majestät, die sich hervorragend in der Würde und Brillanz ihrer Akkorde ausdrückt. Das Inzipit im Breitkopf-Katalog ist als Adagio aufgeführt, was bestätigt, dass die Toccata nicht zu schnell gespielt werden sollte. Die beiden ersten Teile der Overture (Preludie und Toccata), der erste ausgelassen und der zweite gewichtig, führen uns unerbittlich zum wichtigsten der drei Teile, der Fuga. Obwohl dieses Werk eine großmütige Lebendigkeit in sich trägt, kehrt es am Ende zu einem langsamen, würdevollen Finale in der Tradition einer Französischen Overtüre zurück, das ebenfalls mit Adagio bezeichnet ist. Das Fugenthema erinnert an ähnliches melodisches Material in einer der Orgel-Fugen von J.S.Bach und bei genauerem Hinsehen auch an das Prelude, Fugue und Allegro BWV998 für Laute oder Cembalo. Im Fall des letztgenannten Werkes, das mit dem Wissen um die Technik der Laute komponiert wurde, scheint Bach einem idiomatischen Schema gefolgt zu sein, das sich ihm bei Weiss angeboten hat. Es enthält zu Beginn des Themas lange Notenwerte, übereinander gelegte Stimmen in mittleren Längen und schnelle Arpeggien in der Durchführung. Bei unserem Stück bleibt Weiss jedoch bewusst zurückhaltend und fügt nur ab und zu kurze, aber dennoch jubilierend arpeggiierte Teile ein. Bach hätte bei demselben musikalischen Material versucht, die musikalische Bedeutung jedes einzelnen Teiles herauszustellen. Ein bemerkensweres Beispiel einer orchestralen Klangfarbensteigerung findet sich in den Takten 129 bis 137. Eine ununterbrochene Folge von offenen Basstönen führt zu einer sich steigernden Dichte der Klangfarbe, zu der jede offene Saite ihre individuelle Farbe zu dem Klangspektrum beisteuert. Am Ende einer anderen Akkordfolge wird der tiefste chromatische Basston verwendet, der überhaupt auf dem Griffbrett gegriffen werden kann, das Kontra-Cis. Die Wiederholungszeichen kommen etwas überraschend, da sie überhaupt nicht zu einer Fuge zu passen scheinen. Allerdings sind nicht nur hier, sondern auch in einigen anderen Fugen und Fugatos von Weiss Wiederholungszeichen gesetzt. Man muss daher zumindest eingestehen, dass es für Weiss und vielleicht auch für andere Komponisten nicht ungewöhnlich war, dass sie komplett wiederholt wurden.
Wie in der dreizehnten Suite (S-C 18) ist die Courante hier in langen Phrasen geschrieben, die sich wiederholende, bezaubernde Motive verwenden und gefällige Modulationen ermöglichen. Die harmonisch-melodischen Formeln der Bouree nehmen bereits die Paysanne der Suite Nr. 23 "L' Infidel" (S-C 29) vorweg. Ganz gewiss hat es Weiss nicht an Inspiration gefehlt, wenn er im Stil einer Bourree komponiert, was hier an den federnd hüpfenden Vierteln überdeutlich wird. Die Bourree war eine Tanzform, die vermutlich ursprünglich mit den springenden Bewegungen von betrunkenen Tänzern in den Dorffesten in der Auvergne zusammenhängt, die man als "bourré", bzw. "voll" bezeichnet hat. Die Petite Reprise habe ich selber hinzugefügt. Um einen Eindruck von der Häufigkeit dieser Petites Reprises zu geben: In den achtzehn Sätzen der Suiten Nr. 16 und 17 hat Weiss sechs Petites Reprises angezeigt. Darüber hinaus würde ich drei weitere einfügen. Ob Petites Reprises verwendet werden, variiert von einer Suite zur anderen. Preludes, Fugen und Toccatas haben aus guten Gründen keine Reprisen. Bei anderen Sätzen lassen sich bei manchen nicht ohne Weiteres Epiloge anfügen, während andere durch die zusätzliche Aufwertung des musikalischen Verlaufs in großem Maß profitieren. Auf jeden Fall sind verzierte Petites Reprises eines der wichtigsten Elemente der Weissischen Suite.
Die Sarabande, die hier mit drei enggeführten Stimmen in der parallelen Moll-Tonart ausgeführt ist, trägt den Untertitel un poco andante. Der vorwärts drängende Bass erinnert mehr an einen Marsch als an eine gewöhnliche Sarabende. Der erste Teil, der normalerweise ungefähr halb so lang wie der zweite Teil ist, ist hier beinahe ebenso lang (20 zu 21 Takten), obwohl natürlich die Reprise ihn etwas verlängert hat. Darüberhinaus ist diese Sarabande viel länger als die anderen, zumindest was die Taktzahl angeht. Der rhythmische Fluss und ebenso die ganze Atmosphäre des Stückes hängen stark von der persönlichen Interpretation der Ornamente ab: für eine Appoggiatura von oben, einfach oder mehrfach (Triller), langsam oder schnell, und , das entsprechend für eine Appoggiatura von unten verwendet wurde. Diese Zeichen finden sich in allen Tabulaturen von Weiss und die Anziehungskraft seines Werkes ist mehr als sonst davon abhängig, wie man in seinen Werken die Verzierungen interpretiert, selbst beim ersten Durchgang in Wiederholungen. Das dramatische Finale sollte meiner Meinung nach durch Diminutionen verziert werden. Die Worte, die Mattheson für die Beschreibung von e-moll gefunden hat, beschreiben diese Sarabande äußerst treffend: "Kann wohl schwehrlich was lustigem beygelegt werden, man mache es auch, wie man wolle, weil es sehr pensiv, tiefdenckend, betrübt und traurig zu machen pfleget, doch so, daß man sich noch dabey zu trösten hoffet. Etwas hurtiges mag wohl daraus gesetzet werden, aber das ist darum nicht gleich lustig."
Das Minuet ist durchgehend anmutig, was zeigt, welchen Einfluss die Bindungen in der linken Hand auf den musikalischen Ausdruck haben. Das Allegro kündet ein anderes Stück aus dem Manuskript an, das Presto aus der Suite Le Fameux Corsaire (Suite Nr. 22; S-C 28). Es ist ein irrsinniges Wettrennen ohne Ruhepause. Hier zeigt sich wieder die Lebendigkeit, die dieses brillante Werk, das dem italienischen Barock stilistisch sehr nahe steht, am besten charakterisiert.
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Duroselle, Markus Lutz
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