© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 9 in d-moll
(Smith-Crawford 13)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Diese Suite wurde komplett von einem Kopisten geschrieben, bis auf einen von Silvius selber stammenden Verzierungsvorschlag am Ende einer Seite. Drei der fünf Sätze dieser Suite erscheinen auch im Rostocker Manuskript. Wir sprechen hier von fünf und nicht von sechs Sätzen, weil das Largo am Ende der Suite in der Tat, wie bereits in der Einleitung bemerkt, eher Teil eines Duetts ist (wahrscheinlich mit Traverseflöte). Es wird mit den anderen Duetten in einem dritten Teil behandelt werden. Möglicherweise hat Weiss (oder ein anderer Eigentümer des Manuskripts) diese Einzelseite als Ersatz für die sonst übliche Sarabande eingefügt, die bei dieser Suite offensichtlich fehlt. (Das Duo hat dieselbe Tonart, d-moll).

Diese Suite zeigt im dennoch ein erstaunlich hohes Maß an thematischem Zusammenhang. Am Beginn jedes Satzes wird die Polarität zwischen Dominante und Tonika jeweils neu in ähnlicher Weise melodisch mit einer absteigenden Linie umrissen. Darüber hinaus gibt es eine große Ähnlichkeit zwischen dem Prelude und der Allemande mit den entsprechenden Sätzen der 7. Suite (S-C 11). Manche Passagen sind praktisch gleich. Genauso wie bei der offensichtlichen Reinkarnation verschiedener Scarlatti-Sonaten in unterschiedlichen Sammlungen, sollten diese Werke nicht nur als bloße und vielleicht gar minderwertige Variationen anderer vorher oder nachher komponierter Stücke angesehen werden. Der stolze, einer Toccata ähnliche Ausdruck der Fantasia der 7. Suite (S-C 11) steht im Kontrast zu dem Ernst, der sich im Prelude der 9. Suite (S-C 13) zeigt. Es ist zunächst sanft und zufrieden, dann steigert es sich langsam bis zum Punkt der Beklemmung. Direkt vor dem letzten Akkord dieses Preludes, gibt es einen Hinweis auf eine Einfügung in Weiss' Handschrift. Vielleicht war ihm das Ende etwas zu rasch, so dass er ein paar modulierende Arpeggios vor dem Schluss eingefügt hat. Weil die Einfügung mit dem Ende der Seite mitten in einer Phrase abbricht (es drängt sich die Vermutung auf, dass der Rest dieses Stückes irgendwo auf einem anderen Fetzen Papier steht), ist es notwendig das fehlende Stück zu rekonstruieren. Meine Rekonstruktion beschränkt sich auf ein Minimum, indem sie nur die absteigenden Skalen vollendet und dann mit einem Arpeggio und einer Kadenz, die den vorhergehenden Kadenzen ähnelt, zum Schluss-Akkord zurückführt.

Die Hypothese, dass Preludes meistens improvisiert waren und erst nach einer erfolgreichen Fertigstellung aller Sätze zu Papier gebracht wurden, scheint sich hier zu bewahrheiten. Man kann den gemeinsamen Charakter der ganzen Suite an den harmonischen und melodischen Sequenzen erkennen, die Weiss verwendet. Wenn man über den devoten Charakter von d-moll nachdenkt, ist es dann nicht möglich den Beginn der Allemande als eine wahrhaft fromme Opfergabe zu sehen? Es ist interessant, die beiden Allemanden von Suite Nr. 7 (S-C 11) und Nr. 9 (S-C 13) miteinander zu vergleichen. Auf dem Hintergrund ihrer Ähnlichkeit zeit sich um so deutlicher, wie intelligent und unterschiedlich sie komponiert sind.

Bei der Courante hingegen handelt es nicht mehr um Ähnlichkeiten, sondern eher um eine Variante: Eine frühere Version oder eine Überarbeitung desselben Stückes. Die Grundthemen sind identisch in beiden Varianten, mit Unterschieden in ihrer weiteren Verarbeitung. Diese Unterschiede sind deutlich genug, um jeder Version ihren eigenen musikalischen Charakter geben.
Die Bourree muss ein populärer Hit im 18.Jahrhundert gewesen sein. Von allen Werken von Weiss kommt sie am häufigsten in den Quellen vor: darunter London (2 Versionen), London Ms II (Straube), Strassburg, Rostock, Göttweig, Moskau, Warschau (in vier verschiedenen Bänden) und Buenos-Aires. Die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man versucht, Kopien von all diesen Manuskripten zu erhalten, werden schon allein durch die Freude beim Vergleichen von zwölf Versionen desselben Stücks aufgehoben! Das Studium der unterschiedlichen Phrasierungen und Fingersätze war eine sehr anregende Übung. Mit großem Interesse habe ich viele kleine Variationen von einem Beispiel zum anderen entdeckt. Trotzdem sind sich alle im Großen und Ganzen sehr ähnlich, bis auf zwei bemerkenswerte Ausnahmen: Die zweite Londoner Version (S.78) wo die Wiederholungen ausgeschrieben und mit Verzierungen versehen sind, und die Moskauer Version, die eine Double ist. In ihr sind die Viertel im ganzen Stück durch Achtel, mit anderen Worten durch Diminutionen, ersetzt. Ich empfehle daher, die Borree mit ihrem Double zu spielen.

Als ich merkte, dass der letzte Satz dieser Suite ein Menuett war, war ich zunächst sehr unsicher, ob das einen guten Suitenschluss geben würde. Beruhigt war ich, als ich in ihm ein Thema von solcher Schönheit entdeckte. Dieses Menuett bringt auf vollendete Weise das Klanguniversum von d-moll zum Ausdruck, das Mattheson als "etwas großes, angenehmes und zufriedenes" beschrieben hat. Man fühlt sich beinahe versucht, dieses Menuett ein zweites Mal zu spielen, ohne einen Gedanken an das Problem einer solche musikalische Redundanz zu verlieren.


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