© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 8 in A-Dur
(Smith-Crawford 12)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Zu dieser Suite passt vielleicht wie zu kaum einer anderen das Wort "Galanterie". Dieser Begriff wurde auf der einen Seite benutzt, um die instrumentale Solo- und Kammermusik der damaligen Zeit (im Gegensatz zur Opern- und zur Kirchenmusik) zu beschreiben. Auf der anderen Seite drückt sich in diesem Begriff die Eleganz und die Delikatesse der so bezeichneten Musik aus, die Weiss manchmal bevorzugte. Sein musikalischer Geschmack und seine Beschäftigung mit der Galanterie gibt seinen Werken einen Anflug des galanten Stils, der 'neuen Musik' dieser Tage, die damals mehr und mehr im Kommen war. Trotzdem ist Weiss ist wie sein Kollege Bach aber ein Repräsentant des deutschen Nationalstils, der die finale Synthese der beiden im 17.Jahrhundert bestimmenden Barockstile darstellt und beide in einer ausgewogenen Weise miteinander verbindet (französischer Stil: nüchterne Musik voller kleiner und subtiler Verzierungen; italienischer Stil: lebhafte Phrasen reich an schnellen Diminutionen). Obwohl beide Meister durch und durch im barocken Stil verwurzelt bleiben, werden bei Weiss mehr galante Züge sichtbar, die sein Werk gewissermaßen als eine Art Vorläufer der Klassik erscheinen lassen. In seinen späten Werken können wir, obwohl sie fest im barocken Geist verwurzelt sind, bereits einige Merkmale der Sonatenform erkennen.

Bereits an einem so frühen Werk wie der 8. Suite (S-C 12) mit ihrer charakteristischen Leichtigkeit, Anmut und Ausgewogenheit lässt sich diese Tendenz zur Klassik feststellen. Es gibt in ihr keine unnötigen Schnörkel, die Themen sind klar und gesanglich, sie werden wiederholt, aber ohne schwerfällige Kontrapunktik; alles in allem drückt sich darin in vollkommener Weise die kontrollierten Leichtigkeit aus, die wir nun als Produkt eines kultivierten und wohlüberlegten künstlerischen Geistes erkennen (was nicht bedeuten soll, dass es seiner Musik an Gefühl fehlt, wie er in der Sarabande gekonnt beweist).

Suite Nr. 8 (S-C 12) ist kein Autograph und kommt wie Suite Nr. 1 (S-C 1) in verschiedenen Quellen vor. Es gibt viele alternative Sätze, alles in allem sind es 11 Sätze, darunter 3 Preludes und ein Conclude. Hier müssen wir uns wieder für eine Standardfassung der Suite entscheiden. Um unserer Ansicht treu zu bleiben, dass das Londoner und das Dresdener Manuskript als die beiden wichtigsten Quellen sich gegenseitig ergänzen und korrigieren, sollten wir hier gleich wie bei der Fantasia von Suite Nr. 7 (S-C 11), das Prelude der Dresdener Version mit hinzunehmen. Darüberhinaus ist die Londoner Version mit ihren beiden Schlusssätzen bereits ziemlich umfangreich. Voilà, hier haben wir wieder ein Prelude, das ganz knapp in die Tonart einführt: Es beginnt mit typischen Eingangsakkorden, die in einfachen Modulationen verschnörkelt fortschreiten, nicht unähnlich dem Prelude von Suite Nr. 1 (S-C 1), allerdings etwas kürzer.

Mattheson beschreibt A-Dur so: "Dieser Ton soll sehr angreiffen, ob er gleich brillieret, und mehr zu klagenden und traurigen Paßionen, als zu divertissiments geneigt sein." In der 8.Suite erweist sich das bei der Allemande und bei der Chaconne als wahr, es sei denn man argumentiert, dass die Laute ja sowieso ein melancholisches Instrument sei. Es ist auf jeden Fall vorstellbar, dass die Traurigkeit von A-Dur irgendwie zu der zarten Helligkeit der Allemande mit beiträgt. "Noble Zärtlichkeit", - wie könnte man diesen Satz besser beschreiben? Der zarte, frische Ausdruck verrät das Können des Komponisten, der wieder einmal mehr ein perfektes Gleichgewicht zwischen intellektueller Komponierkunst und reiner Expressivität gefunden hat. Die sich anschließende Courante, die die Anmut und Noblesse bewahrt, präsentiert ein aufregendes thematisches Motiv das im weiteren Verlauf kurz und unruhig variiert und verändert wird. Die Lautenisten, die die verschiedene Quellen miteinander vergleichen, werden in dieser Suite, wie bei anderen auch, kleine Abweichungen von der Londoner Tabulatur entdecken, bei der Courante insbesondere in der Basslinie. Diese ist meiner Meinung nach im Podebrady Manuskript ausgewogener.

Diesselbe Atmosphäre wie in den vorhergehenden Sätzen herrscht auch in den sanft wogenden Phrasen der Bourree vor. Die freimütige Sorglosigkeit dieses Satzes kommt abrupt zu einem Ende mit dem ersten Akkord der Sarabande, die in der parallelen Molltonart fis-moll steht. Für mich ist dieser Satz das großartigste Stück des gesamten Londoner Manuskripts, ein außergewöhnliche Momentaufnahme einer inneren Gefühlsregung, die plötzlich wie nach außen explodiert und sich in Gehör und Herz des Zuhörers bohrt. Der Tonartwechsel kündet einen unerwartet dramatischen Diskurs von solcher Schwere an, dass man unweigerlich hineingezogen wird in die intensive Traurigkeit des musikalischen Ausdrucks, der zugleich erfüllt ist von heftigem und leidenschaftlichem Stolz. Atemberaubende Phrasen (man achte auf das erste, aufsteigende Motiv, das abrupt in einem großen Fragezeichen endet, dann aber wieder zurückfällt in die Verzweiflung) gehen über in noch herzzereißendere Phrasen, um zuletzt schicksalshaft in den erdrückenden Schlussakkorden zu ersterben. In diesen Augenblicken des konzentrierten musikalischen Ausdrucks verwende ich das Tremolo (Verzierung Nr. 5 in unserer Übersicht), ein sehr starkes und akzentuiertes Vibrato, das den Eindruck erweckt, als ob die Laute vor Verzweiflung weint.

Nachdem der schmerzvolle Affekt dieser Tonart sehr intensiv zutage trat (Mattheson spricht auch von fis-moll als einem Ton, der "zu einer großen Betrübnis leitet" und der "etwas abandonirtes, singulaires und missantrophisches an sich" habe), geht die Suite mit einem Menuett weiter, das zur vorherigen Stimmung der Sorglosigkeit zurückkehrt. In der Tat war die Galanterie, in dem oben beschriebenen Sinn, in Deutschland und den angrenzenden Staaten so beliebt, dass es nicht überrascht, so viele Menuette in den alten Manuskripten zu finden, denn diese Tanzform entsprach in idealer Weise dem Geschmack der Galanterie.

Auf das Menuett folgen zwei Schlusssätze: die Chaconne sowie die Gigue. Die Chaconne, zu der man eine zusätzliche finale Variation aus den Versionen von Wien und Augsburg hinzufügen kann, vereinigt in sich Brillanz und Melancholie. Im Gegensatz zur üblichen heutigen Praxis, bei der der Schlussteil nicht wiederholt wird, ist es hier ratsam, die Wiederholungszeichen zu beachten, denn sie sind in allen Manuskripten deutlich markiert. Außerdem gibt uns das eine gute Gelegenheit, den Schlussteil noch einmal deutlich hervorzuheben. An dieser Stelle ist es wichtig zu verstehen, dass in der Tat der letzte Teil eines barocken Stückes, wenn er mit Wiederholungszeichen versehen ist, wie zum Beispiel auch bei den Chaconnes und Passacailles von Weiss, wahrscheinlich wiederholt wurde.

Die Gigue ist voller Überschwang, die Noten prallen von Anfang bis Ende fröhlich in Dreiergruppen voneinander ab.


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